Benzin
Annina Frehner & Nora Rekade
TREIBSTOFFE FÜR DEN SCHWELLENZUSTAND
Das Gebäude an dieser steil-abschüssigen Strasse nahm ich zum ersten Mal richtig wahr von gegenüber. “ZUM AUTO” steht in grossen Lettern auf einer Balkonbrüstung an der Fassade. Als ich auf den schlichten, sechsgeschossigen Jugendstil-Bau aus St. Gallens Stickereiblüte zuging, zeigte sich die eben noch stille Passage direkt davor als ziemlich befahren, die Situation unübersichtlich. Die Strasse markierte eine Schwelle. Wie ein von herannahenden Wagen aufgescheuchtes Kätzchen huschte ich flink zur Tür, schob meinen Körper über die Stufe in den hell erleuchteten, teils durchfensterten Raum im Erdgeschoss. Einst diente er als Garage.
Die getreppten und konvex gewölbten Wände richteten mich im Inneren seltsam zu. Geborgen fühlte ich mich nicht und doch wohlig umfangen von dieser überarbeiteten Passform. Wenn für Automobile oder Karossen früherer Generationen ersonnen, gezeichnet und erbaut, haftet dem dank Annina Frehners (*1983, Teufen AR/Leipzig) Intervention, Ahnen, (2021) weiter zur organischen Form zugespitzten Innenraum heute wenig Technisches oder mit herkömmlichen “Mobilitätsgedanken” Verbundenes an. Frehners räumliche Manipulation hebt sich in ihrer scheinbaren Mimikry doch in Farbe und Oberflächenstruktur von den Raumwänden ab. So lenkt sie unsere Aufmerksamkeit wiederum auf einen Übergang in der zum White Cube umgenutzten Garage, statt deren Transformationsgeschichte und eigenwillige Grundform zu überspielen. Damit versetzt sie uns Besucher:innen durchaus in Bewegung.
Ebenso lädt die von Nora Rekade (*1977, St. Gallen) neu angefertigte Malerei zur mentalen wie körperlichen (Raum-)Verschiebung ein. In der hier unverkrampft ausgebreiteten Assemblage von Arbeiten auf Papier, kombiniert mit einer ortspezifischen Architekturtransformation manifestiert sich das Hin-Über-Treten, die Grenzüberschreitung zwischen unterschiedlichen Genrekonventionen, Raumabschnitten, Zeiten und Wahrnehmungsebenen umso deutlicher als Thema. Ich versuche mich “ins Fell” oder auf die Augenhöhe einer Katze zu versetzen, wie sie mir seit dem Überqueren der Strasse nicht mehr aus dem Kopf geht. Den Wänden des Ausstellungsraumes entlangstreichend, lasse ich mich von Rekades mal dicht, mal wässrig aufgebrachten, hier und da verschwimmenden Motiven berühren. Der Schattenriss einer Katze zeichnet sich auch darin als Schwellen- und als Projektionsfigur ab.
E.T.A. Hoffmann schrieb über den “Kater Murr”: “[Er] träumt nicht allein sehr lebendig, sondern er gerät auch, wie deutlich zu bemerken, häufig in jene sanften Reverien, in das träumerische Hinbrüten, in das somnambule Delirieren, kurz, in jenen seltsamen Zustand zwischen Schlafen und Wachen, der poetischen Gemütern für die Zeit des eigentlichen Empfangens genialer Gedanken gilt.” Während sich die der romantischen Literatur entnommene Dichterkatze hier eher als augenzwinkernde Parodie auf Genie, Autorschaft und Bildungseifer erweist, fand der französische Philosoph Jacques Derrida in der Auseinandersetzung mit seiner eigenen Katze erst den Schlüssel zur Dekonstruktion einer zwischen MENSCH und TIER gezogenen, sprachbasierten Grenze. Die Katzenaugen, schreibt er, seien für ihn in dieser Situation ein Spiegel für das autobiografische Ich gewesen: “In den letzten Texten, die ich zu dieser Sache veröffentlicht habe, ziehe ich die Bezeichnung ‚TIER‘ im Singular, als ob es den MENSCHEN und das TIER gäbe, schlechthin in Zweifel, als ob der homogene Begriff Das TIER sich auf universelle Weise auf alle Formen des nicht-menschlichen Lebens erstrecken könnte […] Ecce Animot. Weder Species noch Gender noch Individuum ist es eine irreduzible lebendige Vielfalt von Sterblichem […].”
Gabrielle Schaad, August 2021