23. Juni - 11. September 2011

Gaudenz Signorell/ Julia Steiner

Gaudenz Signorell/ Julia Steiner Gaudenz Signorell/ Julia Steiner Gaudenz Signorell/ Julia Steiner Gaudenz Signorell/ Julia Steiner

 

Mit den beiden Kunstschaffenden haben wir keine unbekannten Namen nach St.Gallen eingeladen – im Gegenteil. (Soeben ist die Ausstellung im Pasqu’Art in Biel zu Ende gegangen, die Julia Steiner anlässlich der Verleihung des Manorpreises gestaltet hat. Gaudenz Signorell ist aus zahlreichen Ausstellungen und Publikationen, u.a. im Kunstmuseum Chur, der Galerie Luciano Fasciati und vielen anderen Orten bekannt.)

Anlass für die Konstellation war unser Interesse, zwei Werke in einen Dialog zu setzen, die beide von Grenzgängen im jeweiligen Medium geprägt sind. Während Gaudenz Signorell in der Fotografie zeichnerische, malerische oder skulpturale Wirkungen schafft, sprengt Julia Steiner nicht nur durch die grossen Formate, sondern insbesondere durch die Dynamik und räumliche Präsenz ihrer Zeichnungen die Sehgewohnheiten.

 

Julia Steiner (*1982) entwirft in ihren grossformatigen Zeichnungen Welten, die sich in einem dynamischen Prozess des Werdens, Vergehens und / oder Verwandelns zu befinden scheinen. Der erste Eindruck, wenn man ihren Werken begegnet, ruft eine Art Schwindel hervor, der Blick wandert hierhin und dorthin, gerät in Strudel, die ihn in Tiefen und Abgründe ziehen, oder aus der Bildfläche hinausschleudern.

Lagen Julia Steiners erste Zeichnungen, mit denen sie an die Öffentlichkeit trat, noch näher an gegenständlich lesbaren, insbesondere landschaftlichen und erzählerischen Darstellungen, so sind sie heute von abstrakteren Formationen geprägt, die der Assoziation und Fantasie mehr Raum lassen, sich aber zugleich auch der Deutung weiter entziehen. Immer wieder scheint sich Erkennbares herauszubilden, meint man in den Hell-Dunkel-Modulierungen auch Modellierungen von Landschaftlichem oder Körperlichem, von Tieren und Pflanzen zu erkennen, doch je mehr sich der Blick interpretierend an Formen heftet, desto mehr entgleiten diese in die Unbestimmtheit. Die Bilder sind eine stetige Herausforderung an die Sinne und den Sinn.

Die Stimmung, die sie vermitteln ist ambivalent, man weiss nicht, erlebt man die Entstehung der Welt aus dem Chaos, oder eher ihre Auflösung. Die Kräfte, die Julia Steiner in ihren Bildern entfesselt, strömen in widersprüchliche Richtungen und gehen häufig über den Blattrand hinaus, ziehen aber auch von ausserhalb Energie ins Bild hinein. Zentrifugal- und Zentripetalkräfte sind gleichermassen am Werk. Wie vielfältig ihre Gestaltungsmöglichkeiten sind, wie virtuos sich ihr Umgang mit den auf schwarze Gouache und weisses Papier reduzierten Mitteln entwickelt hat, lässt sich in der Unterschiedlichkeit der drei Werke erkennen, die sie im nextex präsentiert.

Das wandfüllende Bild „Construction (facet)“ zeigt eine Art Landschaft, die von schwebenden Blättern, Spiegelflächen, oder eben Facetten (vgl. Titel) durchschnitten wird. Ein wenig erinnern diese kristallinen Formen an Caspar David Friedrichs berühmtes Bild „Eismeer“, genauso wie an die Facettierungen der Kubisten. Es ist eine Welt, die zugleich zu zersplittern wie sich zusammenzufügen und zu konkretisieren scheint. Gegenüber hängt ein kleineres Format, in seiner Dynamik nach innen gerichtet; ein Strudel, ein Sog wird geradezu körperlich spürbar – ja in der Mitte scheint sich ein kleines Loch zu öffnen, in das die wirbelnde dunkle Materie hineingezogen und in Abgründe hinter der Bildfläche gesogen wird.

Das dritte Bild hingegen ist von schwebender Leichtigkeit. „Insect’s Sight“ nennt es die Künstlerin und es vermittelt den Eindruck, sich in rasender Geschwindigkeit über eine Wiese zu bewegen, einzelne Halme recken sich entgegen, flirrender Staub schwebt in der Luft, ein üppiger Blütenkelch lockt in der Mitte, während sich zu den Rändern hin die Welt verflüchtigt.

 

Während Julia Steiner den Blick in Aufruhr versetzt und durch die Bilder fliegen lässt, verlangen die Fotografien von Gaudenz Signorell eher ein bedächtiges, vielleicht gar meditatives Schauen, um sich der Wahrnehmung zu öffnen.

Gaudenz Signorell (*1950) ist ein Reisender. Er findet seine Bilder in fernen Ländern genauso wie in seiner nächsten Umgebung. Paris, New York, Kuba, Indien gehören zu den Orten längerer Aufenthalte und ausgedehnter Reisen. Und die Kamera ist immer griffbereit, erhascht Motive oft im Vorbeigehen, aber auch im ruhigen Verweilen. Er geht auf Spurensuche, hat ein Auge für unscheinbare Strukturen, für Spuren des Gebrauchs, für sozusagen „zufällig entstandene Graffiti“. Nach der Heimkehr in das Studio in Domat-Ems beginnt der zweite Teil der Reise, die Gaudenz durch die Weite und Tiefe seiner Fotografien führt und ihn darin ungesehene Bilder entdecken lässt. Sorgfältig werden Bildmaterial und Notizen in Tagebüchern abgelegt und reflektiert, werden Werkgruppen zusammengestellt.

Im ersten Raum lädt „Nietzsches Wanderstab“ zum Begehen der Ausstellung ein. Ein Lichtstrahl scheint sich darin zu materialisieren, lenkt zugleich den Blick zu Julia Steiners Bild und findet dort Korrespondenzen in stabartigen Linien.

Unter dem Titel „Pluie d’orage“ zeigt er im zweiten Raum zwei weitere schwarz-weiss Fotografien. Sie entziehen sich einer direkten Erkennbarkeit, vielmehr entwickeln sie die Faszination gerade aus der Ambivalenz, daraus, dass sie etwas anderes, etwas nur Erahnbares zeigen. Sie dulden keinen schnellen, kurzen Blick, sondern fordern zum Verweilen auf. Dann öffnen sich in ihnen Grenzbereiche der Wirklichkeit, wo Oberflächen brüchig und durchlässig werden, wo dahinter liegende Welten ahnungsvoll durchschimmern.

Nie hat ihn die dokumentarische Seite der Fotografie interessiert, sondern von Beginn an setzte Gaudenz Signorell die Kamera eher als Skizzenbuch und –stift ein, bearbeitete und überlagerte Negative und Positive – er arbeitet bis heute ausschliesslich analog –, und entwickelte eine Bildsprache, die in der Begegnung mit der äusseren Welt nach verborgenen, inneren Bildern sucht, nach dem Unfassbaren und sich stetig Wandelnden. Oft oszillieren seine Fotografien zwischen Flächigkeit und Räumlichkeit: tastet der Blick zunächst malerische oder zeichnerische Strukturen auf einer Oberfläche ab, versinkt er plötzlich in den Tiefen eines unbestimmbaren Raumes, oder begegnet der Präsenz skulpturaler Körperlichkeit.

So scheinen die beiden Fotografien des zweiten Raumes im ersten Moment, beim flüchtigen Hinschauen, eine Landschaft zu zeigen, die sich jedoch bei näherem Hinsehen verflüchtigt. Pluie d’orage, Gewitterregen – so ihr Titel – lässt an die Lichtreflektionen auf Wassertropfen denken, an die hellen feinen Streifen, die sich im Sommerregen wie ein leichter Vorhang über das Land legen. Doch ist dies nicht etwa das Motiv der Bilder, sondern vielmehr lenkt der Titel die Aufmerksamkeit auf ihre assoziative Wirkung, ruft Erinnerungen wach, verweist auf das Erlebnis, weckt die anderen Sinne. – Die rieselnden Geräusche, der Geruch feuchter heisser Erde. –

Es ist das unbestimmt Schwebende nicht das Konkrete, das Ambivalente nicht das Klare, das Wandelbare nicht das Feste; es ist die Poesie, nicht das Erzählerische, was Gaudenz Signorells Werke prägt.

 

Die Werke der beiden Künstler begegnen sich in vielfältigem Dialog: das Gewitter aus Gaudenz’ Fotografien scheint teilweise auch in Julias Zeichnungen zu toben, seinen philosophischen Wanderstock nimmt man mit in Julias Weltentstehung, ist man ermattet von ihren Strudeln findet man zur Ruhe im leisen Flimmern der Fotografien.

 

Corinne Schatz, Vernissagerede vom 23. Juni 2011

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